HEM-TILL-HEM LEDEN (2023)

In einem überaus mobilen Zeitalter wie des jetzigen, in dem Strecken innerhalb eines Wimpernschlags zurückgelegt werden können und in dem Heimat nicht mehr nur einer, sondern eine Vielzahl an Orten zugleich bedeuten kann, fühlt sich der privilegierte Erste-Welt-Mensch so verloren wie nie zuvor. Statistisch gesehen nehmen Einsamkeit und Depression in unserer Wohlstandsgesellschaft zu, was unweigerlich auf den städtischen Lebensstil und den übermäßigen Gebrauch von technischen Geräten wie Smartphones, insbesondere die darauf permanent präsenten Social Media zurückzufüren ist. Zugleich
werden die Ängste um unseren Lebensraum stärker. Die Unsicherheit, wie lange unsere Heimat noch bewohnbar bleibt, nachdem wir selbst diese durch unserer aller Rücksichtslosigkeit soweit zerstört haben, dass die totale Katastrophe nicht mehr vermeidbar ist, ist ein Werk an unübertrefflicher Ironie. Spätestens im Jahr 2020, als das bis dahin gut funktionierende Gerüst, das wir in unserer, von der eigentlichen Natur abgegrenzten Blase für unzerstörbar hielten, einbrach, fand der ein oder andere etwas in dem, was so sehr zum Menschen gehört, wie die Natur selbst. Das Gehen. Schließlich war fast jegliches Konsum-, wie auch Kulturangebot genommen, außer der Raum zum Gehen.
Nicht nur die Wälder (vor allem natürlich in einem dicht besiedelten Ort wie Stuttgart) waren überrannt von Menschen, die auf einmal feststellten, wie wohltuend es ist, in der Natur zu gehen, sondern auch die Form des politischen „Gehens“ nahm schlagartig zu.
Ungeachtet der politischen Richtung oder der Anliegen.
Das Gehen als scheinbare Antwort auf die gefühlte Hilfslosigkeit, als Empowerment.
Vielleicht genau deshalb, weil es so natürlich ist. Oder eben auch das Gehen, das uns unsere Umgebung erfahrbar machen lässt, das die Verbindung zu dem knüpft, was sich für uns nach Heimat anfühlt.

 

Im Zuge des Frühlingsauftaktes 2023 begab ich mich ab Mai, ausgerüstet mit
zahlreichen Birkensamen, Kompass, Karte und Tarp, auf die bisher längste Fernwanderung
meines Lebens. Mit einer Strecke von über 1000 km führte sie von meiner Heimat in Stuttgart, Deutschland bis in meine neue Heimat Schweden.
Die zuvor noch nicht existierende Route wurde erst im Gehen definiert und abschließend in einem durch einzelne Koordinaten
nachvollziehbaren Wanderweg zusammengefasst. Sie bilden
abschließend den Hem-till-Hem Leden , was aus dem Schwedischen übersetzt Heimat-zu-Heimat WegHeimat-Weg bedeutet.

Zeitgleich zu meiner Wanderung befand sich in der Stadtbibliothek Stuttgart Heslach eine begehbare Installation, welche aus mehreren Birkenstämmen im Raum und einem auf einen Birkenstamm angebrachtes Smartphone mit integriertem Thermodrucker bestand.
Die Besucherin oder der Besucher waren dazu eingeladen, mich über das ausgestellte Smartphone anzurufen. Wenn immer ich den Anruf
beantwortete, setzte ich als Akt eines symbolischen Zurückgebens an die Natur, die für mich in der Wahl meiner Heimat die größte Rolle spielt (und der Mangel desser mich zum Auswandern bewegt), an der Stelle, an der ich mich während des Anrufs befinde, einen Birkensamen.
Sobald der Samen gesetzt wurde, empfieng der Anrufende eine Nachricht auf dem installierten Smartphone, die lediglich die Koordinaten des soeben gesetzten Samens enthielt. Die „Quittung“ mit den Koordinaten lief aus dem Thermodrucker heraus und wurde länger, je mehr Menschen einen erfolgreichen Anruf tätigten.

Hem-till-Hem Leden (2023)
Hem-till-Hem Leden (2023)

Ausstellungsansicht Stadtbibliothek Stuttgart Heslach

Ausstellungsansicht Infosäule Hauptbahnhof Stuttgart

DE